Salzige Heringe

Prolog

Im Fernsehen eine Sendung namens „Ab durch die Mitte“ über Berlin im Jahre 1997. Im Öffentlich-Rechtlichen. Nicht digital, aber Kabelfernsehen. Da fällt mir der Kontrolleur des WDR ein, der für die GEZ auf Tournee beim AWD war. Gibt es eine Alma Mater in Alma-Ata? Die Sendung handelt vom Umzug der Regierung, von der bundesdeutschen und speziell Berliner Wirtschaft und vielen Dingen, die vielen Berlinern – den Menschen, nicht den Berliner Ballen – suspekt sind. Die Sendung – eine Dokumentation – hat überzogen, zehn Minuten, ist aber jetzt vorbei. Ein Science-Fiction-Film mit Jean-Claude van Damme auf Pro Sieben. Pro Sieben Media AG, wozu auch Kabel 1 gehört. Insgesamt 31 Kanäle momentan, Arte und Nickelodeon teilen sich einen Kanal. Schwachsinn, denn der Offene Kanal für Dortmund hat einen ganzen Kanal für sich, obwohl er nachts nicht sendet. Auch Onyx sendet nicht mehr nach zwei Uhr oder so. Übrigens wird Onyx in Dortmund produziert. Ein Musiksender, vorwiegend Jazz. Dortmund gefällt mir, auch wenn es mir manchmal paradox erscheint. Der modernste Fuhrpark Deutschlands, ein neues Rathaus für damals 83 Millionen, der Pylon, um nur ein Beispiel öffentlicher Verschwendungswut zu nennen. Dortmund haut rein. Eine neue Bibliothek wird gebaut, ein riesiges, modernes Ding. Ebenso wie das Multiplex-Kino auf der anderen Seite des Hauptbahnhofes. Der soll übrigens ein UFO werden. Ja. Der Rat hat es beschlossen. Die Bahn AG plant ein riesiges UFO-artiges Gebäude, Investitionssummen von 850 Mio. bis 1,3 Mrd. DM wurden genannt. Aber in Dortmund vergißt man Ideen schnell. Auch beschlossene. So beispielsweise das Gelände der Union- Brauerei. Diese ist vor Jahren nach Lütgendortmund umgezogen, machte ein riesiges Areal direkt am Wall, Nähe Westenhellweg und Hauptbahnhof, frei. Nutzungskonzepte. Man hat sich für etwas kleines entschlossen, niedrige Häuser mit Wohnungen, Büros, Läden, vielleicht ein wenig Gastronomie. Aber getan hat sich seit Jahren nichts.

Das erinnert mich an das Westfalen-Forum. Horten hat vor Jahren dicht gemacht, das Haus wurde eingepackt. Über ein Jahr später Bauarbeiten, in der Zeitung steht, Investoren hätten sich zurückgezogen, die Bauarbeiten werden eingestellt. Dieses Jahr wurde wieder angefangen, das Forum nimmt Formen an, aber keine sehr tollen. Sehr schleppender Verlauf. Jetzt Artikel in der Westfälischen Rundschau: Stadt Dortmund will sich für die Verarschung durch den Bauherren rächen, das Ordnungsamt soll Bußgelder verhängen. Wegen Benutzung und Zerstörung der Gehwege und wegen fehlender Absicherung einiger loser Mauerteile. Alles tritt auf der Stelle. Auch für das Gelände der alten Bibliothek findet sich kein Investor, obwohl es der beste Standort in der City ist. Über 16 Prozent Arbeitslose in Dortmund, bundesweit nicht einmal zehn. Aber Dortmund hat weniger Schulden als einige Nachbarstädte. Duisburg ist die einzige Stadt im Ruhrgebiet mit höherem Arbeitslosen-Anteil, hat aber noch dazu die höchste Verschuldung. Alles wendet sich von Dortmund ab, aber die Politik klotzt und kleckert nicht, nur außerhalb der Innenstadt wäre man sogar über etwas Gekleckere froh. Die NS IX ist beschlossene Sache, ich habe einmal kurz einen Bagger gesehen, seitdem tut sich nichts mehr. Selbst wenn sich etwas tun wird, wann auch immer, wird es wieder nur eine halbe Sache – wie immer beim Straßenbau in Dortmund. Bestes Beispiel sind die abbrechenden Autobahnen und Schnellstraßen, und natürlich die Universität, wo eigentlich keine einzige Straße vollendet wurde. Planungen für die Brennabor-Straße (Verbindung Indu-Park mit Wittener Straße – Uni / Dorstfeld) werden alle paar Jahre um ein paar Jahre verschoben. Ikea darf erst im Indu-Park bauen, wenn die Brennabor-Straße fertig ist, aber man war sich zeitweise nicht einmal sicher, ob man Ikea haben wollte. Warum auch.

An der B 236 und OW 3a wird seit Jahrzehnten gearbeitet. Alle paar Jahre Eröffnung eines minimalen, neuen Teilstücks. Dagegen letztens ein Bericht im Fernsehen über Autobahnbau im Nordosten Deutschlands, Gesamtdeutschlands. Heißen wir eigentlich noch Bundesrepublik? Ich sehe mal im Fischer Weltalmanach 1996 nach. Der sagt: Deutschland, Mittel-Europa, Bundesrepublik Deutschland. Ich war mir nicht so sicher. Nicht, daß ich dumm wäre oder kein Interesse an Politik hätte, das Gegenteil ist der Fall. Aber in vielen Dingen ist man sich heute nicht mehr so sicher. Wie schön war doch manchmal der kalte Krieg. Herr Fischer sagt mir weiterhin, daß die Bevölkerung Deutschlands von 1987 bis 1994 von 61 auf 81,5 Mio. gestiegen ist, obwohl unsere Sterbezahlen weit höher sind als die der Geburten. Zurück zur Autobahn. Wie viele Kilometer pro Tag waren es noch, wie viele Tausend Tonnen Teer täglich, wie viele hundert Arbeiter? Und hier? Ebbe.

Fischer. Trotz Flächengewinn nur 61. Rang weltweit. Bevölkerung jetzt zwölfter Rang. Berlin, die alte neue Hauptstadt. Über elf mal so viele Einwohner wie Bonn, 3,48 Mio. zu knapp 300000. Dortmund hat etwa 600000, aber so richtig blicke ich da nicht durch. Wir hatten mal 650000 glaube ich, aber die Bevölkerung schrumpft von Jahr zu Jahr. Aber nicht überall in Dortmund. In Lütgendortmund stetig Zunahmen. „Anteil der Haushalte mit unter 50% des Durchschnittseinkommens: aBl 11,3% (1993), nBl 8,9% (1994)“. 1993. Bevölkerungszuwächse durch Flüchtlinge, illegale Einwanderer, Aussiedler. 1992 554000 Kirchenaustritte, ich zähle erst für 1997, vor einigen Wochen. Aus Prinzip, nicht, weil es mir etwas brächte. Wie ich gerade sehe, war das Problem der Arbeitslosigkeit auch 1994 schon hoch, wenn auch nicht so extrem wie jetzt. Mittlerweile hat sich das mit dem Rechtsextremismus wieder ein wenig beruhigt. Kurz nach der Wiedervereinigung gab es erschreckende Szenen und Stimmungen in der Bevölkerung. Hoyerswerda. Die Hölle. Der RECHTSstaat. Die Wiking-Jugend wird 1994 verboten, die FAP schließlich 1995. Wurde Zeit. Razzien. Der ehemalige NPD- Vorsitzende Günther Deckert wurde 1994 zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt, wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhaß. Kurze Zeit später wird das Urteil von einem anderen Richter aufgehoben, der den Angeklagten sogar noch lobte. Der Richter gerät unter Beschuß, das Verfahren in die nächste Instanz. Zwei Jahre ohne Bewährung. Besser.

Dutzende von ehemaligen DDR- Funktionären werden vor Gericht gestellt, einige verurteilt. Bei einigen fragt man sich, was das soll. So langsam wird es eintönig. Die Gauck-Behörde wird noch viele Jahre damit zubringen, alte Stasi- Akten zu durchforsten. Später mehr zur „Vereinigungskriminalität“ und Siegerjustiz, zu den Mauerschützen, zu Erich Honnecker, Egon Krenz, zu Schwarzarbeit im neuen Justizministerium und anderen Urteilen.

Die Pflegeversicherung tritt 1995 in Kraft. Trotz Widerstand einzelner. Das Postneuordnungsgesetz initiiert die Privatisierung der Post. Nächstes Jahr fällt das Monopol der Telekom. Zumindest in einigen Bereichen. 1994 übergibt die Treuhandanstalt dem Staat 256,4 Mrd. DM Schulden, stellt seine Tätigkeit ein. Angeblich. Weiterführende Gesellschaften wie BMGB, TLG, BVS und BVVG. Staatsverschuldung steigt jährlich an, Neuverschuldung auch. Die Zinsleistungen auch, aber keine Tilgung seit 1972.

1994. Immer noch. „Soldaten sind Mörder“ (Tucholski) wird vor dem Bundesverfassungsgericht diskutiert, mein Freund Volker Rühe (Verteidigung) spricht nach dem Urteil – jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung – von einem Skandal. Ein Skandal. Die Regierung verabschiedet irgend etwas unwichtiges zur moralischen Stärkung der Bundeswehr. Diese kämpft in Bosnien. Der Kohlepfennig wird für verfassungswidrig erklärt. Die FDP setzt durch, daß es keine Ersatzsteuer geben soll, nennt aber keine Alternative, um an die verlorenen 7,5 Mrd. DM jährlich dranzukommen. Vater Staat hat es ja. Friedliche Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen gelten nicht mehr als Nötigung. Kruzifix- Streit in Bayern. Seitdem respektiere ich sie noch weniger. Meschugge, wer in jedes Klassenzimmer per Gesetzt ein Kruzifix hängen will. Hängen.

Gestern abend war Stufentreffen meiner Abschluß- Stufe, voriges Jahr habe ich die allgemeine Hochschulreife erlangt. Schöne Formulierung. Dabei sagt doch wirklich jeder einfach Abi, seltener Abitur. Meine Stufe hat ausnahmslos das Abitur geschafft. Alle durchgekommen. Alle noch genauso arrogant wie früher. Außer zwei. Der eine davon labert zuviel. Studiert Informatik. Den sehe ich des öfteren. Mit dem anderen habe ich mir die Birne zugekippt. War beim Bund, will Offizier werden. Wartet jetzt auf eine Zusage, studiert in der Zwischenzeit irgend etwas, nur, um nicht nichts zu tun. Ich glaube es war Sozialwissenschaften. Wir stießen des öfteren an. Auf alte Zeiten. Heute 14.00 Uhr aufgewacht, nett geweckt von meiner Freundin, die heute morgen um kurz nach fünf, als ich nach Hause kam, wieder wach war, weil sie sich Sorgen um mich machte. Dann nach Bergneustadt, bei Gummersbach im Bergischen Land. Pseudo-Geschäftlich. Seit einigen Tagen offiziell Student, kein Zivildienstleistender mehr. Kein Unterschied. In letzter Zeit viel Bier. Gestern 60 DM verzecht.

Rechtschreibreform. Keiner braucht sie, wenige wollen sie. Gerichte haben sie verboten. Andere haben sie genehmigt. Aber in fast allen Schulen ist sie durchgesetzt. Schon lange. Ist das ein Rechtsstaat? Alles, was mit Schule zu tun hat, ist dumm. Jetzt endlich hat sich unser Bundesaußenminister (!) zu dem Thema geäußert. Er halte die Regulierungswut deutscher Behörden für überholt, ein Relikt aus den Siebzigern. Richtig so, der Meinung bin ich nämlich schon lange. Ich schreibe so, wie ich schreiben möchte. Solange ich so gut schreibe, daß es jeder versteht, ist doch wohl irrelevant, ob ich „fantastisch“ oder „phantastisch“ schreibe. Es ist arrogant, allen Deutschen auf einen Schlag zu sagen, daß sie etwas Schlechtes gelernt haben und das dies jetzt geändert wird. Man sollte nicht vergessen, daß lange Zeit sehr viel Verwirrung entstehen wird. Die Leute wollen die Reform nicht. Wir leben doch in einer Demokratie, oder nicht? Ist da nicht das Volk der Souverän?

Den Euro wollen auch nicht viele, doch hier liegt das eher an der Unwissenheit der Bevölkerung. Ich bin für den Euro, auch wenn er die Inflation eventuell erhöht. Dadurch werden Schulden abgebaut. Wer 100000 auf dem Sparbuch hat ist selber Schuld. 1999 soll er eingeführt werden, 2002 soll die Umstellung abgeschlossen sein, wenn alles klappt. Bei der maroden Haushaltslage vieler europäischen Staaten ist das nicht ganz sicher, doch Frankreich und Deutschland werden sich mit Sicherheit dazumogeln. In der Zeitung eine Studie, dreizehn Länder könnten den Euro pünktlich schaffen. Griechenland nicht. Wie viele Länder sind überhaupt in der EU? Warum weiß ich das nicht? Warum heißt es nicht mehr EG, wie früher? Das mit dem Euro, heißt das nicht EWU? Zwecklos. Wir brauchen den Euro. Ebenso wie eine Steuerreform. USA und GB hatten Sie, dort geht es bergauf. Aber unsere SPD weigert sich, mitzuspielen. Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, selbst bei kleineren Steuerausfällen. Teilweise wären die Mindereinnahmen sofort kompensiert worden durch mehr Mehrwertsteuereinnahmen und Arbeitsplätze, aber ausgerechnet die SPD ist gegen eine Verbesserung in die Richtung „weniger Steuern, mehr Arbeit“. Sozial. Unsere Politiker sind unfähig, haben keine Ahnung. Außerdem verschweigen sie der Bevölkerung vieles, normale Bürger sind nicht informiert, haben keine Ahnung. Die Staatsverschuldung nimmt bedrohliche Ausmaße an, der Staat ist bankrott, wird künstlich am Leben gehalten. Die Verschuldung ist mehrfach höher als der Etat. In wenigen Jahren sind die Zinsleistungen der größte Posten im Etat. Pleite, aber keiner merkt es. Das Volk meint, so etwas wäre normal. Keine Ahnung von Wirtschaft. Aber selbst in der Wirtschaft haben viele keine Ahnung von Wirtschaft. Jetzt mittlerweile 25 Jahre, ohne einen Pfennig getilgt zu haben. Natürlich alle Angaben ohne Gewähr, fällt mir gerade so ein. Fischer gewährt auch nicht. Keine Gnade.

Die Kapitel I bis VI sind allesamt Ende 1997 geschrieben, alle folgenden Einträge sind Nachträge, teilweise auf ein bestimmtes, oft aktuelles Thema bezogen.

„To do is to be“ (Cantor),
„To be is to do“ (Sartre),
„Do be do be do“ (Sinatra).
Solche Sachen lernt man im Netz der Universität. Alles Intellektuelle. Könnte man denken.

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